Produzierende Unternehmen sehen sich mit einer hohen Nachfrage nach Produktindividualisierung konfrontiert und bewegen sich zudem in einem dynamischen Marktumfeld. Damit ein Unternehmen seine Marktposition langfristig stärken kann, kommt es nicht nur auf Preis und Qualität der Produkte an – einen essenziellen Hebel stellt auch die Lieferfähigkeit eines Unternehmens und somit die Performance der unternehmensinternen Lieferkette dar. Um eine hohe Performance sicherzustellen, bedarf es eines effektiven und effizienten Produktionscontrollings. Im Fall von mangelnder Performance sind deren Ursachen zu identifizieren und angemessene Maßnahmen abzuleiten, um zum Beispiel die Logistikleistung zu verbessern.
Komplexe Ursache-Wirkungszusammenhänge in der unternehmensinternen Lieferkette verschleiern die tatsächlichen Ursachen allerdings häufig. Die zunehmende Datenverfügbarkeit ermöglicht eine systematische datengetriebene Ursachenanalyse mit der Hilfe von logistischen Modellen. Die modellbasierte Ursachenanalyse ist jedoch auf den Detaillierungsgrad allgemeingültiger Ursache-Wirkungszusammenhänge begrenzt. Die Anwendung von Data Analytics hingegen ermöglicht kontextspezifische Analysen hoher Individualität.
Daher soll Data Analytics im Rahmen einer hybriden automatisierbaren Produktionscontrolling-Methodik systematisch in die modellbasierte Ursachenanalyse integriert werden. Indem die hybride Produktionscontrolling-Methodik in eine einfach zu bedienende Software überführt wird, sollen kleine und mittlere Unternehmen dabei unterstützt werden, tatsächliche Primärursachen mangelnder Logistikleistung zu analysieren und zielgerichtete Verbesserungsmaßnahmen abzuleiten, ohne dass es tiefgreifendes spezifisches Methodenwissen bedarf.
Datengetriebenes Produktionscontrolling und dessen Herausforderungen
Das Produktionscontrolling stellt eine wesentliche Managementfunktion zur Sicherstellung eines wirtschaftlichen Produktionsbetriebs dar. Die Aufgaben umfassen die Beschaffung, Analyse und Aufbereitung von Daten, um die zielorientierte Planung, Umsetzung und Steuerung von Verbesserungsmaßnahmen zu fördern. So ermöglicht das Produktionscontrolling es Unternehmen, sich im Spannungsfeld einer hohen Logistikleistung und niedrigen Logistikkosten zu positionieren. Eine hohe Logistikleistung drückt sich durch Zielgrößen wie eine kurze Durchlaufzeiten und eine hohe Liefertermintreue aus. Niedrige Logistikkosten werden durch geringe Bestände und eine hohe Ressourcenauslastung erreicht, was wiederum die Logistikleistung reduzieren kann.
Weist eine der genannten Zielgrößen Abweichungen auf, kann die modellbasierte Ursachenanalyse herangezogen werden, um anhand von Produktionsdaten die Primärursache mit Hilfe von logistischen Modellen zu erschließen. In sogenannten Treiberbäumen werden allgemeingültige Ursache-Wirkungszusammenhänge der unternehmensinternen Lieferkette genutzt, um ausgehend von einer Zielgröße potenzielle Primärursachen mangelnder Zielerreichung mit einem steigenden Detaillierungsgrad zu analysieren. Eine geringe Liefertermintreue in der auftragsspezifischen Beschaffung kann beispielsweise durch interne Verzögerungen im Wareneingang oder aber durch Lieferantenverspätungen verursacht werden. Potenzielle Ursachen der Lieferantenverspätungen wiederum sind zum Beispiel eine geringe Liefertermintreue der Lieferanten oder eine verspätete Bestellauslösung. Als potenzielle Verbesserungsmaßnahme kann dann die Einführung von Sicherheitszeiten oder die Automatisierung der Bestellauslösung abgeleitet werden.
Unternehmensspezifische Ursache-Wirkungsbeziehungen bleiben bei der modellbasierten Ursachenanalyse jedoch außer Acht. In dem Beispiel der auftragsspezifischen Beschaffung bleiben Fragen wie: „Wie wird die Zielgröße durch die unternehmensspezifischen Strukturen in der Beschaffung beeinflusst? Welchen Einfluss haben einzelne Lieferanten oder das Artikelspektrum?“ offen. Darüber hinaus braucht es einen hohen Erfahrungswert, um abgeleitete potenzielle Verbesserungsmaßnahmen in der aus logistischer und wirtschaftlicher Sicht richtigen Rangfolge zu priorisieren.
Data Analytics im Produktionscontrolling
Data Analytics ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die es sich zum Ziel setzt, Wissen aus Daten zu generieren – zum Beispiel nicht triviale Muster, Wirkzusammenhänge oder Trends. Dafür können unter anderem Produktionsdaten genutzt werden. Data Analytics vereint Methoden des Machine Learning und der Statistik. Aus prozessualer Sicht umfasst Data Analytics grundlegend die Sammlung und Auswahl von Daten, deren Vorverarbeitung, um anschließend eine Datenanalyse zu ermöglichen sowie die Ergebnisinterpretation und Visualisierung von dem so generierten neuen Wissen.
In ersten Fallstudien wurden beispielsweise Clusteranalysen und Regressionsmodelle im Produktionscontrolling eingesetzt, um wesentliche kontextspezifische Einflussfaktoren auf die Liefertermintreue von produzierenden Unternehmen zu identifizieren und die Stärke des Einflusses zu quantifizieren. Beispiele für jene kontextspezifischen Einflussfaktoren sind die Komplexität des Produktionsauftrags, der Planungshorizont, einzelne Prozessschritte, der Produkttyp, die Nacharbeitsintensität und auch Qualitätsmerkmale.
Hybrides Produktionscontrolling
Um das Potenzial von Data Analytics auszuschöpfen, entwickelt das Institut für Fabrikanlagen und Logistik (IFA) im Forschungsvorhaben deep.Control eine hybride Produktionscontrolling-Methodik, die die Vorteile der modellbasierten Ursachenanalyse und des Einsatzes von Data Analytics vereint. Bestandteile der Methodik sind ein hierarchisches Zielsystem produktionslogistischer Zielgrößen, ein Vorgehensmodell zur hybriden Ursachenanalyse und Maßnahmenableitung, ein generischer Maßnahmenkatalog sowie eine Datenarchitektur, die den Grundstein für die Umsetzung der Methodik in einer einfach zu bedienenden Software legt.
Aktuell widmet sich das IFA der detaillierten Ausgestaltung der systematischen Integration von Data Analytics-Methoden in die modellbasierte Ursachenanalyse, während das Unternehmen deepIng business solutions GmbH die softwaretechnische Umsetzung konzeptioniert.
Folgendes Anwendungsszenario der Produktionscontrolling-Methodik und somit der Software wurde von den Forschenden für ein generisches Unternehmen definiert: Das Unternehmen muss initial die Performance-Ziele für den zu betrachtenden Produktionsbereich definieren und eine Schnittstelle zu Produktionsdatenbanken – zum Beispiel zum Enterprise Resource Planning System (ERP-System) – schaffen, um die Zielerreichung in der Software automatisch überwachen und auf einem Dashboard visualisieren zu können. Wird eine Zielabweichung festgestellt, werden die vorhandenen Produktionsdaten automatisch vorverarbeitet und in einer zentralen Datenbank der Software zusammengeführt, um einen einheitlichen Datenzugriff zu gewährleisten. Über Drag and Drop ist es dem Unternehmen möglich, den Dateninput mit standardisierten Datenbedarfen für die Ursachenanalyse semantisch zu verknüpfen.
Im Rahmen der Forschungstätigkeit detailliert das IFA die automatische Datenverarbeitung und -analyse in der Datenarchitektur. Für die Entwicklung der hybride Ursachenanalyse greift das IFA sowohl auf die logistische Modellierung entlang der Treiberbäume als auch auf Data Analytics-Methoden zurück, um die Primärursachen anhand von allgemeingültigen und kontextspezifischen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu identifizieren. Das modellbasierte Vorgehen zeichnet sich vor allem durch eine systematische Eingrenzung des zu betrachtenden Produktionsbereichs aus, in dem die potenziellen Ursachen der Zielabweichungen liegen.
Die oben genannten Fallstudien zeigen das Potenzial, mit Data Analytics zusätzlich die Stärke des Einflusses potenzieller Ursachen zu quantifizieren und so auf Primärursachen schließen zu können. Die deepIng business solutions GmbH schafft in der Software eine visuell ansprechende Bedienoberfläche und ermöglicht dem Unternehmen das Eingeben von Feedback, sodass die automatische Ursachenanalyse mit Erfahrungswissen angereichert wird.
Verbesserungsmaßnahmen erkennen und sinnvoll umsetzen
Nachdem das Unternehmen die Primärursachen mit Hilfe der automatisch ausgeführten Produktionscontrolling-Methodik identifiziert hat, erhält es in der Software, welche die deepIng business solutions GmbH im Forschungsvorhaben entwickeln wird, eine Empfehlung, welche Maßnahmen zur Verbesserung der Zielerreichung implementiert werden sollen. Dazu greift die Software auf einen vom IFA zu entwickelnden generischen Maßnahmenkatalog zurück. Das IFA stellt zudem umfangreiches Wissen über die Ursache-Wirkungsbeziehungen bereit, wodurch positive wie auch negative Auswirkungen der Maßnahmenimplementierung auf einzelne Zielgrößen des Spannungsfelds zwischen Logistikleistung und Logistikkosten beurteilt werden können.
Dies befähigt das Unternehmen letztendlich dazu, logistisch und wirtschaftlich vorteilhafte Verbesserungsmaßnahmen zu priorisieren und diese in einer sinnvollen Reihenfolge zu implementieren.