Massenware war gestern, heute wollen die Kunden individuelle Produkte – aber billig sollen sie trotzdem sein. Die Hersteller stehen dadurch doppelt unter Druck: Sie wollen flexibel auf Kundenwünsche reagieren und gleichzeitig die Kosten senken. Ihre Wettbewerbsfähigkeit können sie langfristig durch Innovationen in den Produktionsprozessen sichern – insbesondere in der Montage, denn diese verursacht bis zu 70 Prozent der Herstellungskosten und birgt somit ein erhebliches Einsparpotential.
Innerhalb der Montage gilt die Zuführtechnik zwar als peripheres, aber dennoch entscheidendes Entwicklungsgebiet. Beispielsweise werden rund 40 Prozent aller Störungen an automatisierten Montageanlagen durch deren Zuführeinrichtungen verursacht.
Luft sorgt für den entscheidenden Impuls
Am Institut für Fabrikanlagen und Logistik (IFA) der Leibniz Universität Hannover wurden in diesem Zusammenhang mehrere Verfahren zur Bauteilzuführung mithilfe von Luftströmungen entwickelt. Sie bieten sich aufgrund ihres Potentials bezüglich Geschwindigkeit, Variantenneutralität und Zuverlässigkeit speziell bei Hochgeschwindigkeitsanlagen an und stellen eine sehr flexible Alternative zu konventionellen Zuführsystemen wie Vibrationswendelförderern oder mechanischen Zentrifugalförderern dar.
Die Verfahren machen sich spezielle Luftströmungen und die Asymmetrie von Werkstücken zunutze. Durch Luftströmungen kann ein definierter Drehimpuls am Werkstück erzeugt werden, sodass es sich während der Zuführung in die richtige Lage dreht. Dies geschieht auf einer sogenannten schiefen Ebene (siehe Bild 2). Der Ebene werden die Bauteile von einem vorgeschalteten Modul mit einer konstanten Geschwindigkeit ν übergeben. Die Ebene selbst besteht aus zwei rechtwinklig zueinander angeordneten Flächen. Gegenüber der Horizontalen weisen beide Flächen der Ebene einen Winkel auf, das Gefälle α in Bewegungsrichtung und die Neigung β quer dazu. In der Ebene ist weiterhin eine Luftdüse positioniert, aus der Luft mit konstantem Druck ρ strömt.
Die Maschine, die sich selbst einstellt
Die Konfiguration dieser vier Einstellungsmöglichkeiten (Gefälle und Neigung der schiefen Ebene, Düsendruck und Geschwindigkeit) nehmen bislang erfahrene Fachkräfte manuell vor. Das ist äußerst zeitaufwendig, denn sie müssen dafür in vielen aufeinander aufbauenden Versuchen eine Vielzahl von Einstellungskombinationen ausprobieren. Selbst an der aerodynamischen Zuführanlage am IFA sind mehr als 400.000 Kombinationen möglich.
Um den Zeitaufwand für den Benutzer zu minimieren, forscht das IFA an der Entwicklung einer Maschine, die selbstständig in der Lage ist, die optimalen Einstellungen für ein Bauteil zu identifizieren. Dabei greift sie auf Methoden der Evolutionsbiologie zurück – in diesem Fall wird ein genetischer Algorithmus aus dem Bereich der naturanalogen Optimierungsverfahren herangezogen.
Vorbild Evolution
Die grundsätzliche Idee von genetischen Algorithmen besteht darin, eine Menge an Lösungen so miteinander zu kombinieren, dass stetig bessere Lösungen entstehen (siehe Bild 3) – so wie sich auch Tiere und Pflanzen durch die Evolution ständig weiterentwickeln und anpassen. Zu Beginn des Algorithmus ist eine so genannte Startpopulation vorhanden. In dieser Startpopulation befindet sich eine bestimmte Anzahl an Individuen, die durch ihre jeweiligen Chromosomen charakterisiert werden. Übertragen auf die Maschine zur Bauteilzuführung besteht ein Chromosom aus vier Genen, die die vier Einstellungsmöglichkeiten darstellen.
Durch Kombination und Mutation lassen sich aus der Startpopulation neue Individuen erzeugen. Dabei „paaren“ sich zwei Individuen, sodass ihre Gene neu kombiniert werden und zwei neue Individuen entstehen. Ähnlich wie in der Natur kann es bei diesem Vorgang auch zu Mutationen kommen. Dabei verändert sich eines der Gene zufällig. Diese zufälligen Veränderungen führen dazu, dass der Genpool um ein neues Individuum erweitert wird, das durch ausschließlich natürliche Kombinationen nicht hätte entstehen können.
Survival of the Fittest
In Anlehnung an die Evolutionstheorie des Naturforsches Charles Darwin werden diese Individuen anschließend anhand ihrer Eignung (englisch: Fitness) bewertet. In der Natur überleben beispielsweise Giraffen mit langen Hälsen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als ihre Artgenossen mit kürzeren Hälsen, da sie besser an Nahrung kommen. Im Fall der Maschine überleben solche Individuen, die zu einer besseren Zuführqualität führen. Dieser Vorgang wird als natürliche Selektion oder „Survival of the Fittest“ bezeichnet.
Der gesamte Ablauf wiederholt sich so lange, bis ein Individuum gefunden ist, das zu einer Zuführqualität von annähernd 100 Prozent führt. Am Ende des Algorithmus setzt sich also das Individuum durch, das am besten an seine Umgebung angepasst ist – beziehungsweise jene Einstellungen, die zu den besten Zuführergebnissen führen.
Wird der Mensch überflüssig?
Durch die Implementierung dieses genetischen Algorithmus in die Steuerung der Maschine kann diese völlig selbstständig optimale Einstellungen für neue Bauteile identifizieren. Weiterhin ist es der Maschine möglich, im laufenden Prozess Abweichungen zu kompensieren, die beispielsweise durch Temperaturänderungen entstehen.
Der Mensch muss dabei nicht mehr eingreifen. Überflüssig wird er jedoch nicht – diese häufig geäußerte Befürchtung ist unbegründet. Vielmehr verschiebt sich lediglich der Aufgabebereich weg von ausführenden hin zu überwachenden und steuernden Tätigkeiten. Für diese anspruchsvolleren Aufgaben sind gegebenenfalls Weiterbildungen erforderlich, die das Qualifikationsniveau erhöhen. Dies führt letztlich zu einer höheren Motivation und Zufriedenheit des Menschen.