Ergonomie am Arbeitsplatz wird immer wichtiger. Denn wenn Arbeitskräfte häufig krank sind, wird es für Unternehmen teuer. Zudem erschwert der Fachkräftemangel die Suche nach qualifiziertem Personal – auch deshalb tun Unternehmen gut daran, ihre Mitarbeiter bis zum Rentenalter gesund und fit zu halten.
Besonders belastend ist die Arbeit in der Montage. Nicht nur, weil die Fachkräfte in manchen Branchen mit schweren Bauteilen arbeiten müssen – sondern vor allem, weil sie Bewegungen konzentriert und präzise ausführen müssen. Dabei können sie leicht Haltungen einnehmen, die für den Körper ungünstig sind. Werden diese falschen Haltungen beziehungsweise Bewegungen mit Beständigkeit ausgeführt, sind chronische Leiden als Folge nicht auszuschließen – von Sehnenscheidenentzündungen bis Rückenschmerzen.
Ergonomiebewertung: bisher aufwendig und teuer
Um die Arbeitskraft zu erhalten, muss nicht nur die Arbeitsumgebung ergonomisch gestaltet sein. Die Arbeiter müssen auch lernen, Bewegungen so auszuführen, dass sie ihrem Körper nicht schaden. Große Konzerne beschäftigen deshalb Physiotherapeuten und Arbeitswissenschaftler, die Mitarbeiter in der Montage beobachten, Bewegungsabläufe auswerten und Tipps geben, wie die Arbeiter Arbeitsabläufe ergonomischer gestalten und somit potentiellen Langzeitschäden vorbeugen können. Eine solche Betreuung ist jedoch sehr aufwendig und teuer – kleine und mittlere Unternehmen können sich diese meist nicht leisten.
Eine kostengünstige Alternative entwickeln das Institut für Integrierte Produktion Hannover (IPH) gGmbH und das Institut für Fabrikanlagen und Logistik (IFA) der Leibniz Universität Hannover im Forschungsprojekt „WorkCam“.
Ein 3D-Kamerasystem soll künftig Montage-Arbeiter beobachten und ihre Bewegungen in Echtzeit auswerten. Die Forscher wollen in den kommenden zwei Jahren eine Software entwickeln, die autonom eine Ergonomiebewertung durchführt und während ungünstigen, ungesunden Haltungen ein sofortiges Feedback gibt. Zudem soll die Software Empfehlungen abgeben, wie die Arbeitsplätze ergonomischer gestaltet werden könnten.
Bewegungsanalyse per Kamera in gewohnter Umgebung
Bisher wird die Bewegungsanalyse per Kamera mit sogenannten Motion-Capture-Anzügen durchgeführt, welche die Arbeiter während der Evaluation tragen müssen. Solche Ganzkörperanzüge mit Markern werden oftmals im Rahmen von Filmproduktionen eingesetzt, um zum Beispiel animierten Figuren Leben einzuhauchen: Die Bewegungen eines Schauspielers werden aufgezeichnet und dienen als Vorlage für die Animation. Bei der Arbeit in der Montage behindern solche Anzüge jedoch. Zudem ist sich der Arbeiter ständig bewusst, dass er beobachtet wird – und wird sich dadurch möglicherweise nicht natürlich bewegen.
Das neue System soll Bewegungen ausschließlich mit Hilfe von 3D-Kameras erfassen. Spezielle Anzüge, Marker oder Sensoren sollen in Zukunft nicht mehr nötig sein, die Arbeiter sollen in ihrer gewohnten Umgebung gefilmt werden. So wird weder die Produktion unterbrochen noch der Arbeiter in seinen Bewegungen eingeschränkt.
Feedback in Echtzeit: ungesunde Körperhaltungen sofort korrigieren
Ein weiterer Vorteil ist die Auswertung in Echtzeit. Bei bisherigen Methoden zur Ergonomiebewertung müssen die Aufnahmen nachträglich von Experten ausgewertet werden. Die Arbeiter erhalten damit erst später, in ungünstigen Fällen erst nach Tagen Rückmeldung, ob sie sich ergonomisch korrekt bewegen oder nicht – und welche Körperhaltungen sie vermeiden oder korrigieren sollten.
Das neue Kamerasystem soll die Bewegungen dagegen automatisiert auswerten und in Echtzeit Feedback geben. Bückt sich der Arbeiter beispielsweise mit krummen Rücken, warnt ihn das System, dass diese Bewegung schädlich ist. So kann der Arbeiter seine Körperhaltung sofort korrigieren – und lernt mit der Zeit, den Rücken gerade zu halten.
Die Herausforderung: Die Forscher müssen der Software beibringen, welche Bewegungen ergonomisch sind und welche nicht. Um das zu erreichen, sehen die Forscher mehrere Möglichkeiten: Zum einen ließe sich der ideale Bewegungsablauf abspeichern und jede relevante Abweichung als potenziell schädlich einstufen – dabei muss die Software jedoch berücksichtigten, dass nicht jeder Mensch ideal proportioniert und gleichermaßen beweglich ist. Zum anderen könnten ungesunde Körperhaltungen einprogrammiert werden, die die Software dann erkennt. Denkbar ist, dafür Methoden des maschinellen Lernens zu nutzen: Die ersten Videoaufnahmen würden wie bisher von Experten bewertet, die ungünstige Bewegungen markieren und damit den Algorithmus trainieren.
Ergonomischere Arbeitsplätze sparen langfristig Kosten
Damit sich die Ergonomiebewertung auch für kleine und mittlere Unternehmen lohnt, setzen die Forscher auf eine kostengünstige Lösung. Die Hardware für das Kamerasystem wollen sie aus handelsüblichen Komponenten zusammenstellen. Zudem soll das Kamerasystem so flexibel sein, dass es sich an unterschiedlichen Arbeitsplätzen einsetzen lässt: Sobald ein Arbeiter verinnerlicht hat, welche Bewegungsabläufe ergonomisch sind, kann das System abgebaut und am nächsten Arbeitsplatz aufgebaut werden. So ließen sich ohne großen Aufwand nach und nach sämtliche Montagemitarbeiter objektiv bewerten und schulen.
In Zukunft könnten Unternehmen mit dem neuen Kamerasystem nicht nur ihre Mitarbeiter für Ergonomie sensibilisieren. Sie würden auch erfahren, wie sie die Arbeitsumgebung besser gestalten können, um ihre Mitarbeiter gesund zu halten. Wenn beispielsweise ein Behälter mit häufig verwendeten Schrauben über Kopfhöhe angebracht ist, muss der Arbeiter ständig nach oben greifen – ergonomischer und effizienter wäre es, die Behälter zu tauschen und häufiger benötigte Teile in Reichweite zu lagern.
Durch die Kameraanalyse können Unternehmen solche Verbesserungspotenziale aufspüren. Damit können sie künftig die Gesundheit ihrer Arbeiter erhalten, Ausfälle vermeiden und letztlich Kosten sparen.