Was Marc-André Dittrich, Delil Yarcu, Mohammad Kazhai und drei weitere Kollegen vom PZH in den nächsten drei Jahren erforschen und einsatzfähig machen werden, ist nicht weniger als eine lang ersehnte Weltneuheit: Anfang 2015 werden sie mit dem neuen, aluminiumlegierten Leichtbaustahl beliefert, den die Deutschen Edelstahlwerke gemeinsam mit der Daimler AG entwickelt haben. "Der Gefügeaufbau bei dem sogenannten UHC, also Ultra High Carbon Stahl, ist ganz anders als bei anderen Stählen", erklärt Dittrich, "er ist hoch kohlenstoffhaltig und trotz seiner hohen Festigkeit dennoch zäh."
Verschiedene Perspektiven auf einen neuen Werkstoff
Schon beginnt zwischen den drei Ingenieurwissenschaftlern eine lebhafte Diskussion über Korngrenzen und deren Ausscheidungen, über den Vorteil, dass der Stahl nicht verzundert und über die Unterschiede zu anderen Hochleistungswerkstoffen. Sie arbeiten an zwei verschiedenen Instituten des PZH und betrachten den neuen Werkstoff mit entsprechend unterschiedlicher Perspektive: Während Dittrich vor allem das Materialverhalten hinsichtlich der spanenden Bearbeitung interessiert – er arbeitet am Institut für Fertigungstechnik und Werkzeugmaschinen (IFW) – sehen Yarcu und Kazhai insbesondere das Verhalten beim Umformen. Sie arbeiten am Institut für Umformtechnik und Umformmaschinen (IFUM).
Der neue Stahl hat im Vergleich zu den heute im Automobilbau verwendeten Stählen vergleichbare mechanische Eigenschaften, ist aber um rund zehn Prozent leichter. Und da er sich so anders verhält, sind neue, entsprechend angepasste Fertigungsverfahren erforderlich. Diese Verfahren – Richten, Trennen, Umformen, Wärmebehandeln, Zerspanen, Schleifen – wollen die Projektbeteiligten entwickeln und in einer optimal aufeinander abgestimmten Prozesskette simulieren und realisieren.
Material als Neuland: "Wir müssen komplett von vorne anfangen."
Die erste große Aufgabe besteht darin, den Stahl zu "verstehen" – und ein Materialmodell zu erstellen. Das ist vor allem Kazhais Aufgabe. Wie verändert die Temperatur das Gefüge und das Verhalten des Stahls beim Umformen? Welche Parameter sind entscheidend? Wie wirkt sich die anschließende spanende Bearbeitung auf die Oberfläche und die Spannungen im Bauteil aus? Welche Prozessgrenzen gibt es? Kazhai sagt: "Wir müssen mit diesem Material komplett von vorne anfangen."
Dann kommt der nächste Schritt: Die Prozesse und die entsprechenden Werkzeuge fürs Umformen und Fertigen optimal auf den neuen Werkstoff auslegen. Dafür sind Delil Yarcu an der Umform- sowie Marc-André Dittrich und dessen Kollegen Tim Göttsching und Andreas Weidle auf Zerspanungsseite verantwortlich. Schließlich sollen am Ende des dreijährigen Forschungsprojekts, das unter dem Namen IPROM vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird und dem weitere Industriepartner angehören, zwei Prozessketten stehen. Dittrich: "Wir werden 2017 zwei Prozessketten real aufbauen. Eine davon, für die Fertigung von Kolbenbolzen, bauen wir hier im PZH auf. Eine zweite für Pleuel wird bei den Industriepartnern stehen."
Ein Projekt für die Geschichtsbücher – und fürs PZH
Mit diesem anspruchsvollen Projekt könnten die beteiligten wissenschaftlichen Mitarbeiter gewissermaßen Geschichte schreiben. Dass es am PZH gelandet ist, hat mit der engen Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Industriepartnern und den Instituten zu tun. Aber nicht nur, wie Yarcu anmerkt: "Unsere Partner haben betont, dass ihnen die kurzen Wege hier im PZH wichtig sind". Das heißt: Umform- und Fertigungstechnik arbeiten räumlich nebeneinander und inhaltlich zusammen. Es legt nicht jeder seinen eigenen Prozess optimal aus, ohne nach links und rechts zu blicken, sondern arbeitet am Gesamtoptimum der Prozesskette.
Die Leichtbaustahl-Pioniere am PZH sind auf jeden Fall höchst motiviert, den neuen Werkstoff prozesssicher und wirtschaftlich konkurrenzfähig für die Produktion bereitzustellen. "Wenn sich so ein Material durchsetzt", sagt Delil Yarcu, "dann ist es natürlich schon toll, wenn man sagen kann, wir waren bei den Anfängen dabei".