Medizin und Industrie haben auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam – doch ebenso wie produzierende Unternehmen müssen sich auch Krankenhäuser gegenüber Wettbewerben behaupten, indem sie neben der Qualität ihrer angebotenen Leistung auch Kosten sparen und möglichst effiziente Prozesse gewährleisten. Ob ein Krankenhaus wirtschaftlich ist, hängt in diesem Zusammenhang insbesondere von der Planung und Steuerung des OP-Bereichs ab. Denn bis zur Hälfte der Behandlungskosten für einen Patienten, der operiert werden muss, können am Tag des Eingriffs entstehen.
Wissenschaftler aus Hannover wollen hierzu bewährte Ansätze und Methoden zur betrieblichen Produktionsplanung und -steuerung (PPS) auf Operationszentren in Krankenhäusern übertragen. Das Institut für Fabrikanlagen und Logistik (IFA) der Leibniz Universität Hannover, das bereits langjährige Erfahrung mit der Planung und Steuerung sowie dem Controlling von Produktions- und Logistikprozessen hat, arbeitet dabei mit dem Institut für Standardisiertes und Angewandtes Krankenhausmanagement (ISAK) der Medizinischen Hochschule Hannover zusammen. Gefördert wird das Projekt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
Viele Ähnlichkeiten zwischen Produktion und Krankenhaus
Aber lassen sich Produktionsunternehmen und Krankenhäuser überhaupt vergleichen? Während die einen ihr Geld mit der Herstellung spezifischer Produkte verdienen, wollen die anderen Patienten heilen oder palliativ behandeln. Doch ähnlich zu den Fertigungsaufträgen in einer Produktion durchlaufen auch klinische Patienten eine Aneinanderreihung von Prozessschritten – von der Aufnahme über die Therapie bis zur Entlassung. Während in industriellen Unternehmen Produktionsplaner Fertigungsaufträge erstellen und deren Durchlauf durch die Produktion planen, organisieren im Krankenhaus typischerweise OP-Manager und OP-Koordinatoren den Patientendurchlauf durch den Operationsbereich. Wie in einem Produktionsunternehmen müssen sie dabei Behandlungen beziehungsweise Operationen freigeben, Reihenfolgen festlegen und Prioritäten setzen, Behandlungszimmer zuordnen und das Personal zusammenstellen.
Komplexe Rahmenbedingungen im OP-Alltag
Im Krankenhaus gilt ebenso wie in der Produktion: Hohe Auslastung steigert die Wirtschaftlichkeit. Während Produktionsplaner in Unternehmen versuchen, Maschinen und Anlagen möglichst gut auszulasten, versuchen die OP-Koordinatoren im Krankenhaus, die Wechselzeiten zwischen zwei aufeinanderfolgenden Operationen zu reduzieren, um eine hohe Auslastung der OP-Kapazitäten zu gewährleisten. Denn die Kosten pro Patient sind umso geringer, je besser die bereitgestellten Ressourcen genutzt werden, zu denen neben dem OP-Saal auch das gesamte OP-Team gehört.
Allerdings lassen sich Operationen deutlich schwerer planen und steuern als betriebliche Produktionsprozesse. So kommen beispielsweise bis zu einem Drittel der Patienten ungeplant ins Krankenhaus und müssen innerhalb von 24 Stunden behandelt werden – ein so hoher Anteil an Eilaufträgen ist in einer Produktion eher ungewöhnlich. Zudem sind Art und Schwere des Krankheitsbildes häufig noch nicht bekannt, wenn der Patient im Krankenhaus eintrifft – die Auslastung der OP-Bereiche lässt sich daher nur bedingt vorhersagen. Vergleichen lässt sich das am besten mit der Wartung und Instandhaltung von Flugzeugen oder Turbinen: Auch hier ist vorher oft nicht klar, wie hoch der erforderliche Regenerationsaufwand sein wird. Im Krankenhaus können sich zudem die Operationszeiten stark unterscheiden, selbst wenn ähnliche Krankheitsbilder behandelt werden. Gleichzeitig müssen im OP verschiedene Berufsgruppen zusammenarbeiten – mit unterschiedlichen Qualifikationen, Kompetenzen, Zielen und Dienstplänen. Auch das ist eine Herausforderung für die OP-Koordinatoren.
Wissenstransfer aus der Produktionstechnik
Als Experte für betriebliche Produktionsplanung und -steuerung sowie Produktionscontrolling hat das IFA in der Vergangenheit bereits viele praxistaugliche Modelle, Methoden und Verfahren entwickelt. Dieses Wissen aus der Produktionstechnik soll jetzt auf Krankenhäuser übertragen werden. Im Rahmen einer Forschungskooperation entwickeln Wissenschaftler von IFA und ISAK ein Modell zur Planung und Steuerung von OP-Zentren: Es orientiert sich am Modell der Fertigungssteuerung, das die Zusammenhänge zwischen zentralen logistischen Größen wie dem Bestand und der Auslastung darstellt und dabei Ziel-, Regel- und Stellgrößen unterscheidet.
Durch zahlreiche Interviews mit Chirurgen, Anästhesisten, Pflegepersonal und weiteren Krankenhausangestellten haben die Forscher zunächst ein Prozessmodell entwickelt, das den Patientendurchlauf beschreibt (siehe Bild 2) und die Ableitung wichtiger Kennzahlen wie der Patientendurchlaufzeit ermöglicht. Gleichzeitig haben sie verschiedene Ziel-, Regel- und Stellgrößen identifiziert und in Zusammenhang gebracht. Derzeit übertragen die Forscher logistische Modelle wie Durchlaufdiagramme oder Produktionskennlinien auf das OP-Umfeld, um darauf aufbauend eine Beschreibung des logistischen Systemverhaltens von OP-Zentren und der bestehenden Wirkzusammenhänge zu ermöglichen. Das soll die OP-Koordinatoren bei ihren Entscheidungen unterstützen. Darüber hinaus entwickeln die Forscher gegenwärtig unterschiedliche Steuerungsverfahren, die an die sehr komplexen Rahmenbedingungen eines OP-Zentrums angepasst sind – beispielsweise an die hohe Anzahl ungeplanter Patienten und die komplexe Rollenverteilung innerhalb des OP-Bereichs. Mit diesen unterschiedlichen Verfahren lässt sich das Modell der OP-Planung und -Steuerung individuell konfigurieren.
Im Juli 2015 wird das Forschungsprojekt abgeschlossen. Dann sollen die Projektergebnisse in der Praxis angewendet werden – in einem Pilot-OP-Bereich in der Medizinischen Hochschule Hannover.