Egal ob in der Elektrotechnik, Energieerzeugung, Transportwesen oder Luft- und Raumfahrt – die grundlegenden physikalischen Eigenschaften aller technischen Komponenten werden maßgeblich durch die Auswahl der richtigen Werkstoffe bestimmt. Für Weiterentwicklungen in nahezu allen technologischen Bereichen müssen somit auch die verwendeten Werkstoffe leistungsfähiger werden.
Legierung ohne Hauptelement
Metallische Werkstoffe wie Stähle oder Aluminiumlegierungen, die konventionell vielseitig eingesetzt werden, bestehen überwiegend aus einem Hauptelement und einigen wichtigen Nebenelementen in geringen Konzentrationen. In Stählen weist Eisen als Hauptelement in der Regel Massenanteile von mehr als 90 % auf. Das Hauptelement als Basis bestimmt hierbei die übergeordneten Eigenschaften eines Werkstoffs wie Festigkeit, Dehnbarkeit und Härte, durch die Zugabe von Nebenelementen können diese Eigenschaften in gewissen Grenzen verbessert werden. Das Hauptelement gibt darüber hinaus das Kristallgitter vor – und damit die regelmäßige innere Anordnung der Atome in einem Werkstoff.
Doch was passiert, wenn kein einzelnes Hauptelement allein vorhanden ist, sondern es stattdessen fünf oder mehr Elemente gibt, die gemeinsam die Hauptrolle spielen? Forscherinnen und Forscher des Instituts für Werkstoffkunde (IW) der Leibniz Universität Hannover stellen sich genau diese Frage und arbeiten im Rahmen des Schwerpunktprogramms 2006 der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) an sogenannten hochentropischen Legierungen.
Hochentropische Legierungen
Die neue Klasse der hochentropischen Legierungen (engl. High Entropy Alloys; HEA) bezeichnet Metalle mit fünf oder mehr Elementen in nahezu gleicher Konzentration. Hierdurch gibt nicht ein einzelnes Element die Ordnung in dem Werkstoff und die resultierenden Eigenschaften vor, sondern die Vielzahl von Elementen mit einer zufälligen Besetzung der Gitterplätze. Untersuchungen des IW in diesem Bereich konnten jedoch trotz des vermeintlichen Chaos eine Form der Ordnung nachweisen, die sich zwischen der klassischen Ordnung in konventionellen Legierungen und einer chaotischen Verteilung der Elemente bewegt.
Dieses neue Konzept des Legierungsdesigns eröffnet einen riesigen Bereich an Kombinationsmöglichkeiten mit erheblichem technologischen Potenzial. Es zeigen sich ungewöhnliche Phänomene in der Mikrostruktur und den mechanischen Eigenschaften, die in konventionellen Legierungen nicht erreicht werden können. Als bekannte wegweisende Legierungssysteme gelten hierbei vor allem die Cantor- und die Senkov-Legierung, welche nach ihren Entdeckern benannt sind.
Hochentropische Formgedächtnislegierungen
Forscherinnen und Forscher des IW gehen noch einen Schritt weiter und wenden das beschriebene Prinzip der hochentropischen Legierungen im speziellen Bereich der Formgedächtnislegierungen (engl. Shape Memory Alloys; SMA) an. Somit arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an hochentropischen Formgedächtnislegierungen (HE-SMA). Dazu zählt unter anderem TiZrHfCoNiCu (siehe Bilder), eine Legierung aus Titan, Zirkonium, Hafnium, Kobalt, Nickel und Kupfer.
Formgedächtnislegierungen sind Metalle, die die Fähigkeit besitzen, sich nach einer Umformung unter Zufuhr von Wärme an ihre ursprüngliche Form zu „erinnern“ und in diese Form zurückzukehren. Trotz dieser herausragenden Eigenschaft finden die Legierungen bisher in der Technik wenig Anwendung. Der Grund hierfür liegt darin, dass der Formgedächtniseffekt kein ideal ablaufender Prozess ist, sondern durch prozessbedingte Werkstofffehler begrenzt wird. Dies hemmt den Effekt bereits nach wenigen Anwendungszyklen, sodass sich ein wirtschaftlicher Einsatz zumeist auf ausgewählte Bereiche wie in der Medizintechnik beschränkt.
Die Entwicklung von HE-SMA soll der unerwünschten Ermüdung mit Hilfe von Gitterverzerrungen und weiteren HEA-spezifischen Eigenschaften entgegenwirken. Innerhalb der Forschung des IW konnten bereits unter mehr als 1500 MPa Last erfolgte Verformungen erfolgreich durch den Formgedächtniseffekt zurückgestellt werden. Auch die oben beschriebene Hemmung des Effektes, die als funktionelle Ermüdung bezeichnet wird, konnte reduziert werden. Hochentropische Formgedächtnislegierungen zeigen sich damit als vielversprechende Systeme für die Weiterentwicklung von Formgedächtnislegierungen.
Ziele des Schwerpunktprogramms 2006
Die HEA-Forschung im Schwerpunktprogramm 2006 der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zielt auf das Erreichen eines grundlagenwissenschaftlichen Verständnisses von Werkstoffeigenschaften, die auf den Hochentropieeffekt zurückzuführen sind. Hierzu zählt die Identifizierung von spezifischen Eigenschaften, die als direkte Folge der hervorstechenden Merkmale von HEA auftreten. Übergeordnet soll ein grundlegendes Verständnis der charakteristischen strukturellen und mikrostrukturellen Merkmale von HEA untersucht werden – mit besonderem Augenmerk auf deren Einfluss auf die mechanischen Eigenschaften.
Weitere Informationen zum gesamten Schwerpunktprogramm 2006 der DFG sind unter https://www.sppccahea.uni-bayreuth.de zu finden.