Wie gelingt die Integration einer autonomen, agilen und gleichzeitig skalierbaren Produktionseinheit in ein bestehendes Produktionssystem? Wie erfolgt eine intelligente Produktionssteuerung? Welche Auswirkungen ergeben sich auf relevante Key-Performance-Indikatoren (KPI) des Produktionssystems? Diesen herausfordernden Fragestellungen geht ein interdisziplinäres Team aus den Unternehmen Sennheiser electronic, Bitmotec, Rapidminer, slashwhy und dem Institut für Fertigungstechnik und Werkzeugmaschinen (IFW) der Leibniz Universität Hannover im Rahmen des Verbundprojekts IIP-Ecosphere nach.
Die intelligente Produktion der Zukunft
Die Vision von IIP-Ecosphere (IIP-E) ist ein Innovationssprung im Bereich der Selbstoptimierung der Produktion auf Basis vernetzter, intelligenter und autonomer Systeme zur Steigerung der Produktivität, Flexibilität, Robustheit und Effizienz. Ziel der Projektumsetzungsphase ist es, ein neuartiges Ökosystem aufzubauen – die Next Level Ecosphere for Intelligent Industrial Production. Dieses Ökosystem ermöglicht eine neue Ebene in der intelligenten Produktion.
Zur Umsetzung von Vision und Ziel sieht IIP-Ecosphere Aktivitäten vor, welche die Anwendbarkeit von intelligenten Methoden zukünftiger Produktionstechnologien erleichtern. Gleichzeitig sollen diese in realen Anwendungsszenarien demonstriert werden. Hierfür findet ein enger Austausch zwischen den Forschenden des „Innovation Core“ und den Demonstratoren im Bereich „Easy Tech“ statt (siehe www.iip-ecosphere.eu).
Autonome Roboterzelle zur Leiterplattenendprüfung
Einer der IIP-E-Demonstratoren entsteht im Produktionssystem der Firma Sennheiser electronic am Standort und Firmensitz in der Wedemark bei Hannover. Dort wird eine vollständig autonome, agile und skalierbare Prüfzelle zur Leiterplattenendprüfung in der Sennheiser Future Factory als Demonstrator aufgebaut und in das laufende Produktionssystem integriert. Zur Vermeidung monotoner, manueller Arbeiten werden solche Prüfzellen herkömmliche Arbeits- und Prüfplätze zukünftig sukzessive ergänzen.
Eine Prüfzelle besteht in diesem Zusammenhang aus vier Komponenten, die einen autonomen und agilen Betrieb erlauben: Ein Roboter zur Handhabung verschiedenster Leiterplattentypen, ein universelles Prüfsystem zur elektrischen Leiterplattenprüfung, typenspezifische Prüfadapter zur Kontaktierung von Leiterplatten und einem fahrerlosen Transportsystem (FTS) zur autonomen Belieferung der Prüfzellen mit Leiterplatten und Prüfadaptern. Prüfadapter sind in diesem Zusammenhang transportable Elemente, die über einen Rüstvorgang zwischen den Prüfzellen ausgetauscht werden können.
Intelligente Produktionssteuerung
Um den autonomen Betrieb dieser und zukünftig weiterer autonomer Prüfzellen innerhalb des bestehenden Produktionssystems zu ermöglichen, bedarf es zusätzlich eines neuen Konzepts zur intelligenten Produktionssteuerung. Dazu muss dieses System einerseits die Organisation des Materialflusses zu den autonomen Prüfzellen und die Orchestrierung der Prüfzelle und ihrer Komponenten selbst übernehmen. Andererseits müssen bestehende Arbeits- und Prüfplätze des Produktionssystems ebenfalls in die intelligente Produktionssteuerung integriert werden.
Vor diesem Hintergrund werden in dem erarbeiteten Konzept sowohl die Prüfzelle(n) inklusive aller Komponenten, als auch die regulären Prüfplätze als eigenständige Agenten beziehungsweise Softwareagenten modelliert und ihre relevanten Eigenschaften und Fähigkeiten im Kontext der Leiterplattenprüfung vollständig digital abgebildet. Dazu wird auf die Technologie und Spezifikationen der Verwaltungsschale zurückgegriffen, um ein möglichst standardisiertes digitales Abbild der Prüfzellen – also einen standardisierten digitalen Zwilling – zu erhalten. Dieser digitale Zwilling der Fertigung dient somit als Informationsgrundlage für die intelligente Produktionssteuerung, wodurch eine durchgehende Vernetzung des gesamten Produktionssystems erreicht wird.
Aufträge eines Produktionsprogramms werden direkt aus dem Enterprise-Ressource-Planning-System (ERP) in einen digitalen Auftragspool der intelligenten Produktionssteuerung übertragen. Dort stehen die Aufträge, beziehungsweise ihre digitalen Auftragsdaten, zur Verfügung. Die Zuweisung auf individuelle Prüfzellen oder manuelle Prüfplätze inklusive der Berücksichtigung von verfügbarem Personal wird anschließend in Verhandlung mit den jeweiligen Agenten vollständig autonom durchgeführt. Diese Verhandlung bezieht gleichzeitig die Kompatibilitäts- und Verfügbarkeitsprüfung von Prüfadaptern für etwaige Rüstvorgänge mit ein. Nach Feststellung einer optimalen Belegungsstrategie erfolgt durch die intelligente Produktionssteuerung die Orchestrierung relevanter Materialfluss- und Rüstvorgänge. Ein manueller Planungs- und Steuerungseingriff geschieht somit nur noch in Ausnahmefällen. Eine Übersicht dieses Ablaufs kann exemplarisch aus Bild 2 entnommen werden.
Durchführung einer Simulationsstudie
Die Integration eines solchen Konzepts in das bestehende Sennheiser-Produktionssystem stellt eine grundlegende Änderung der bisherigen Vorgehensweisen in der Produktionsplanung und -steuerung dar. Um eine Strategie zur optimalen Belegungsplanung zu ermitteln und die Auswirkung der intelligenten Produktionssteuerung auf relevante KPIs zu evaluieren, wurde vor diesem Hintergrund eine Simulationsstudie vom IFW durchgeführt. Das IFW hat dazu das derzeitige Sennheiser-Produktionssystem in der Software zur diskreten Materialfluss- und Eventsimulation Tecnomatix Plant Simulation nachgebildet und um eine autonome Prüfzelle erweitert. Mittels eines zusätzlichen Software-Frameworks zur agentenbasierten Programmierung, das die Steuerung der Simulation übernimmt, wurde die Prozess- und Ablauflogik entsprechend des skizzierten Konzepts für das Sennheiser-Produktionssystem programmiert.
Anschließend wurde untersucht, welche Performanzsteigerungen und Potentiale auf Basis der intelligenten Produktionssteuerung (siehe Bild 3) zu erwarten sind. In diesem Zusammenhang hat sich eine Belegungsplanung nach der Prioritätsregel „kürzeste Bearbeitungszeit“ als besonders geeignet herausgestellt. Dazu erfolgte eine Evaluierung und ein Vergleich anhand von Vergangenheitsdaten eines Referenzzeitraums. Dieser Referenzzeitraum erstreckt sich über eine Phase sehr hoher Kapazitätsauslastung. Der Ablauf der manuellen Produktionssteuerung (siehe Bild 4) wurde diesbezüglich in einer zweiten Simulation implementiert. Somit konnten die Potenziale der intelligenten Produktionssteuerung möglichst umfassend untersucht und verglichen werden.
Die Ergebnisse dieser Simulationsstudie können Bild 5 entnommen werden. In diesem Bild ist die relative Verbesserung der sogenannten Lieferperformance durch den Einsatz einer intelligenten Produktionssteuerung abgebildet. Die Lieferperformance stellt in diesem Zusammenhang einen zentralen KPI im Sennheiser-Produktionssystem dar. Um das Systemverhalten und dessen Auswirkungen auf den KPI bei stochastisch auftretenden Störungen von Prüfplätzen oder Personalengpässen differenziert zu untersuchen, wurden unterschiedliche Verfügbarkeitsszenarien (x-Achse in Bild 5) definiert. In diesen Szenarien wurde die Verfügbarkeit von Prüfplätzen zwischen 65 und 95 Prozent variiert. Dadurch wurden in der Simulation ordinäre Anomalien im Sennheiser-Produktionssystem in unterschiedlicher Häufigkeit berücksichtigt und eine Bandbreite möglicher realer Produktionsszenarien simuliert.
Über alle Verfügbarkeitsszenarien hinweg ist zu erkennen, dass die Lieferperformance durch eine intelligente Produktionssteuerung im Referenzzeitraum signifikant verbessert werden konnte. Die größtmögliche Steigerung der Lieferperformance lag im 75-Prozent-Verfügbarkeitsszenario bei circa 50 Prozent.
Signifikante Performanzsteigerung erwartet
Langfristig kann von einer signifikanten Performanzsteigerung des Produktionssystems ausgegangen werden. Über alle Verfügbarkeitsszenarien hinweg wurde durch die intelligente Produktionssteuerung eine Steigerung der Lieferperformance um durchschnittlich 30 Prozent im Referenzzeitraum realisiert. In einem nächsten Schritt gilt es nun die in der Simulationsstudie äußerst performante, intelligente Produktionssteuerung im realen Produktionsumfeld zu implementieren und weiter zu validieren.